Parte II

Il primo Brecht
 
 
Helmut Gier
 
BRECHT IM ERSTEN WELTKRIEG
 
 
 

 

"Zwanzigjährig, als Sanitätssoldat im ersten Weltkrieg, schrieb ich eine Ballade, die das Hitlerregime fünfzehn Jahre später als Grund meiner Ausbürgerung angab. Das Gedicht bekriegte den Krieg und jene, die ihn zu verlängern wünschten."1

 
Noch fast dreißig Jahre nach seiner Entstehung sieht Brecht 1947 vor dem Kongreßausschuß für unamerikanische Betätigung in seinem berühmten Gedicht Legende vom toten Soldaten sein erstes nennenswertes und zugleich folgenschweres Werk. Kein anderes einzelnes Gedicht hat Brechts Bild in der Öffentlichkeit denn auch mehr geprägt als dieses, kein anderes Gedicht hat er so oft an herausgehobener Stelle drucken lassen: 1922 in der Erstausgabe des Stücks Trommeln in der Nacht, 1927 in der Hauspostille und noch 1934 als Eingangsgedicht in seiner ersten in der Exilzeit erschienenen Gedichtsammlung Lieder Gedichte Chöre 2. Mit der Legende vom toten Soldaten entfesselte er auch seinen ersten großen Skandal, als er sie im Januar 1922 bei seinem Auftritt in dem Berliner Kabarett "Wilde Bühne" vortrug und damit wütende Proteste auslöste. Dieses Gedicht, in dem die Nationalsozialisten eine "Beschimpfung des deutschen Frontsoldaten" sahen, hat konservative und völkisch-nationale Kreise herausgefordert wie kein anderes Brechts, mit ihm war sein Weg zum politischen Dichter vorgezeichnet3. Das Soldaten- und Kriegsthema wird Brecht in der Folge nicht mehr loslassen, vom Kriegsheimkehrerstück Trommeln in der Nacht, der Ummontierung eines Menschen in eine Kampfmaschine in Mann ist Mann, dem Fatzer bis hin zu Mutter Courage und ihre Kinder 4.
 
Ohne die Erfahrung des Ersten Weltkriegs sind diese Werke nicht denkbar; die Entstehung der Legende vom toten Soldaten im Jahre 1918 zeigt zugleich, daß mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein End- und zugleich Ausgangspunkt der Entwicklung Brechts erreicht ist. Die aggressiv und hämisch wirkende Autorpersönlichkeit von ungeheurer satirischer Schärfe ist 1918 in ihren Grundzügen ausgebildet, wie viele Angehörige seiner Generation ist Brecht damit ganz wesentlich ein Ergebnis der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) und wird von ihr geprägt bleiben. Diese Sicht prägt auch Brechts Charakterisierung durch Carl Zuckmayer in seiner Erinnerung an die gemeinsame Zeit in München aus dem Jahre 1965: "er war aus der Kriegszeit 1914/18 wie die meisten von uns als ein Rebell hervorgegangen"5.
 
Dem höhnischen Angriff des zwanzigjährigen Brecht auf die tragenden Säulen des wilhelminischen Kaiserreichs, Militär, Kirche und national gesinntes Bürgertum, stehen die Werke des sechzehnjährigen Brecht diametral gegenüber, die er nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und 1915 verfaßte. Es genügt, sich eine Strophe aus einem im August 1914 veröffentlichten Gedicht wie Der heilige Gewinn vor Augen zu führen, um den riesigen Abstand zu ermessen, der die Werke des sechzehnjährigen von denen des zwanzigjährigen Brecht trennt, welcher Weg in vier Jahren zurückgelegt wurde:
 
"Das ist so schön, schön über all' Ermessen
Daß Mütter klagelos die Söhne sterben sehn
Daß alle ihre Sorgen still vergessen
Und um des Großen Sieg nun beten gehn."6
 
Dieser Wandel, der sich innerhalb von vier Jahren vollzog, macht deutlich, welch wichtiger Zeitabschnitt in der inneren und literarischen Entwicklung Brechts die Jahre des Ersten Weltkriegs gewesen sind. Dies rechtfertigt es, den Voraussetzungen, Ausgangspunkten, Gründen und Gesetzmäßigkeiten dieser Entwicklung erneut nachzuspüren.
 
Denn so entscheidend diese Periode in der Herausbildung von Brechts Einstellung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und seinen literarischen Verfahren gewesen ist, eine befriedigende Darstellung hat sie bisher in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht gefunden. Abgesehen von den Arbeiten zur Lyrik des jungen Brecht von Klaus Schuhmann, Peter Paul Schwarz und Carl Pietzcker, zur frühen Prosa Brechts von Kirsten Boie-Grotz, der großen Untersuchung von Eberhard Rohse Der frühe Brecht und die Bibel und einem Aufsatz von Reinhold Grimm, Brechts Anfänge, wurde ihr bislang überhaupt nur wenig Aufmerksamkeit zuteil7. Mit Ausnahme des Brecht-Handbuchs von Jan Knopf behandeln viele umfassendere Darstellungen und Biographien diese Zeit nur sehr kursorisch mit einem Verweis auf die allgemeine Kriegsbegeisterung, von der auch der junge Schüler ergriffen worden sei, klammern die frühe Lyrik vor der Hauspostille wie in dem von Klaus-Detlef Müller herausgegebenen Arbeitsbuch ganz aus oder legen den Akzent ganz auf eine frühe und rasche kritische Sicht der Zeitereignisse8. Bleibt man aber zu sehr im ungefähren und allgemeinen, unterläßt man jede genauere Verortung der Brechtschen Äußerungen in den Tendenzen und Strömungen des Geistes der Zeit, dann sind die Eigenheiten seiner Haltung und Einstellung zum Ersten Weltkrieg und ihr Wandel nicht präzise zu fassen, vielmehr kommt es dann im Gegenteil dazu, daß kaum eine andere Periode in Brechts Entwicklung auch bei renommierten Kennern seines Werks Anlaß zu solch haltlosen bis abenteuerlichen Vermutungen und Spekulationen gibt. Dies liegt vor allem an einer mangelnden Kenntnis des historischen, mentalitätsgeschichtlichen und auch lokalen Kontexts, an einer gerade bei einem so eminent gesellschafts- und geschichtsbezogenen Autor wie Brecht erstaunlicherweise fast völlig werkimmanenten Betrachtungsweise, die zudem bei den älteren - noch vor dem Erscheinen des Werks von Werner Frisch und K.W. Obermeier Brecht in Augsburg - Arbeiten auf einer noch ganz unzureichenden Materialbasis beruhte9. Schon angesichts der Flut von Literatur, die es zur Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs bis hin zu seinem Niederschlag in der Literatur gibt, wäre es vermessen, in einem knappen Beitrag eine umfassende Einordnung des Schaffens Brechts aus diesen Jahren in diesen Kontext und zugleich Deutung aus ihm heraus anzustreben, mehr als Hinweise, Anregungen, Richtigstellungen und Versuche, manche Fixierung aufzubrechen und die Werke vor dem zeitgenössischen Hintergrund zu sehen, können hier nicht geleistet werden.
Zuallererst - um sozusagen eine sichere Grundlage zu bekommen und damit sich Fehleinschätzungen nicht weiterschleppen - muß ein für alle Mal klargestellt werden, daß die Angaben zu den frühen Kriegspublikationen in der Brecht-Bibliographie von Walter Nubel eben nicht "im wesentlichen vollständig" waren, wie Reinhold Grimm noch glaubte10. Nach dem Erscheinen des Werks Brecht in Augsburg von Werner Frisch und K.W. Obermeier, die leider in ihre entsprechende Liste die bei Nubel bereits aufgeführten Zeitungsveröffentlichungen nicht wieder aufnehmen, sondern nur die Neufunde gegenüber Nubel verzeichnen, und den einschlägigen Bänden 13, 19 und 21 der neuen Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe steht jetzt erst die große Zahl der Pressepublikationen Brechts nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs fest11. Brecht veröffentlichte in den Jahren 1914 und 1915 nicht "ein rundes Dutzend Beiträge" (so Grimm) insgesamt, sondern allein in den Monaten August und September 1914 schon 18, in den Jahren 1914 und 1915 zusammengenommen 35. Da auch die umfassenden Darstellungen der Lyrik des jungen Brecht von Schuhmann, Schwarz und Pietzcker in diesem Punkte ganz auf dem Kenntnisstand der Bibliographie von Walter Nubel fußen, sind sie schon von ihren Voraussetzungen her überholt und müssen manche ihrer darauf aufbauenden Deutungen in Frage gestellt werden. Die Ausnahmestellung, die dem Gedicht Moderne Legende mit einer vermeintlich ansatzweisen "pazifistischen Tendenz" (so Schwarz) zukam, hängt auch damit zusammen, daß das am 2. Dezember 1914 veröffentlichte Gedicht lange Zeit irrtümlicherweise für das "erste Gedicht zum Thema des Weltkriegs" gehalten wurde12, während Brecht in Wirklichkeit schon im August und September 1914 vier Gedichte aus diesem Anlaß veröffentlicht hatte13.
 
Brecht ließ somit die Kriegsereignisse nicht monatelang auf sich wirken, um dann mit "deutlicher Distanzierung" an die Öffentlichkeit zu treten, sondern er wurde nach Kriegsausbruch durch das "Augusterlebnis" geradezu von einer fieberhaften Erregung und einem unbändigen Schaffensdrang und Ausdruckszwang ergriffen. Denn nicht anders ist es zu deuten, wenn der sechzehnjährige Brecht in den Monaten August und September 1914 vier Gedichte, eine kurze Geschichte und zwölf Berichte und Betrachtungen, die alle umittelbar unter dem Eindruck des Ausbruchs und der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs verfaßt wurden und darauf bezogen sind, in zwei verschiedenen Augsburger Zeitungen veröffentlichte, nicht nur in den Augsburger Neuesten Nachrichten, wie man lange Zeit glaubte, sondern auch in der München-Augsburger Abendzeitung, öfter sogar zwei am selben Tag in den beiden verschiedenen Zeitungen. Im übrigen handelt es sich bei beiden Blättern um nationalliberal ausgerichtete Zeitungen des konservativen Bürgertums, es wäre naiv zu glauben, daß gerade bei der zentral gesteuerten Berichterstattung und militärischen Zensur 1914 oder 1915 in ihnen hätte etwas erscheinen können, was eine kritische Haltung zum Krieg oder gar pazifistische Tendenzen hätte anklingen lassen14.
 
Diese zahlreichen Pressebeiträge vermitteln den Eindruck, daß sich der sechzehnjährige Schüler vom Strom der großen Ereignisse völlig mitreißen ließ und in den Sommerferien 1914 nichts anderes tat, als die vielfältigen Eindrücke, die innere Erregung und Ergriffenheit und seine Anteilnahme in poetischen Werken, Reflexionen und Stimmungsberichten wiederzugeben und nach Möglichkeit zu veröffentlichen. Wenn Thomas Mann im November 1914 schreibt: "Wie die Herzen der Dichter sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde!", so gilt diese Aussage auch für den jungen Brecht15.
 
Angesichts dieser fieberhaften Produktion führt es in die Irre, Brechts frühe Kriegsveröffentlichungen als "Auftragsarbeiten" abzutun oder in ihnen wohlberechnete Verstellung und Rollenspiel am Werke zu sehen, um sich einmal nach den ersten Publikationen in einer hektographierten Schülerzeitschrift mit geringer Auflage in großen Zeitungen gedruckt zu sehen, so erhebend dies für den Sechzehnjährigen sicher war16. "Auftragsarbeiten" zu vergeben, Texte anzufordern, die jemand gegen seine innere Überzeugung verfassen mußte, hatte im August 1914 keine Zeitung nötig, die Zeitungen wurden ganz im Gegenteil von einer Flut patriotischer Literatur überschwemmt. Der beste zeitgenössische Kenner der deutschen Kriegslyrik, Julius Bab, schätzt, daß im August 1914 eineinhalb Millionen Gedichte verfaßt wurden, von denen nur rund hunderttausend gedruckt wurden, d.h. in den Redaktionsstuben gingen mehr als zehnmal so viele Gedichte ein, als selbst die freundlichste lokale Presse veröffentlichen konnte17. Brecht wurde mit seinen ersten Zeitungsveröffentlichungen von dieser "poetischen Mobilmachung"18 miterfaßt und wirkte an ihr mit. Diesem gewaltigen pathetischen Dilettantismus und dieser sich massenhaft in trivialen Ausdrucksformen ergießenden Ergriffenheit vom Erlebnis einer großen Zeit huldigt auch der junge Brecht. Will man individuelle Züge in seiner Produktion von zeittypischen unterscheiden, sind sie vor diesem Hintergrund zu sehen.
 
Daß es dem jungen Brecht mit seiner vaterländischen Begeisterung ernst war und diese in seinem Inneren tief verwurzelt und nicht eine Frucht des "Augusterlebnisses" war, zeigt die patriotische Gesinnung, die in seinem Tagebuch von 1913 zutage tritt und sich am deutlichsten in dem Bannerlied ausdrückt19. Anlaß für dieses Lied war wahrscheinlich das hundertjährige Jubiläum der Befreiungskriege im Jahre 1913, die letzte große patriotische Aufwallung zur mentalen Vorbereitung auf den Krieg, der sich auch das anonyme, wenn nicht von Brecht verfaßte, so doch mit seinem Einverständnis in der von ihm herausgegebenen Schülerzeitschrift Die Ernte veröffentlichte Gedicht 1813-1913 verdankt20. Brecht nimmt selbst am 14. Juni an einer Gedenkfeier in Augsburg statt, empfindet sie als "Schön!" und will in der Folge selbst ein "Jahrhundertfestspiel" schreiben21.
 
Brechts Patriotismus nach Kriegsausbruch ist zunächst als nahtlose Fortsetzung und zugleich Steigerung dieser Haltung und Einstellung zu sehen. Alle die Beschwörungen von "Vaterland in Not", "Fahne schwarz-weiß-rot", "Pflicht", "Männertreu" und "Heldentod" wie im Bannerlied waren so sehr innerlicher Besitz22, daß sie nach Kriegsausbruch zur sofortigen poetischen Wiederbelebung bereitstanden. Auch die religiöse Verherrlichung des Opfertods in dem Einakter Die Bibel aus dem Jahre 1913 Wir opfern uns gerne und Ist es nicht schön, für Tausende zu leiden ist in diesem Zusammenhang und sicher nicht in dem eines persönlichen Masochismus zu sehen23.
 
 
Bei der ständigen Indoktrination gerade der bürgerlichen Jugend zu patriotischer Gesinnung durch Schule, Kirche und Publizistik kann es daher nicht verwundern, wenn der junge Brecht von der nationalen Hochstimmung miterfaßt wird und wie die München-Augsburger Abendzeitung, sein Religionslehrer Pfarrer Detzer, aber auch der Dichter Carl Hauptmann sich Bismarcks Vertrauen in die eigene Stärke zu eigen macht: "Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt" 24. Allerdings darf man sich kein allzu einfaches Bild von Kriegstaumel, -begeisterung und kollektivem Jubel nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs machen, auch wenn die Geschichtsschreibung selbst lange Zeit nicht genügend differenzierte25. Es verleitet zu falschen Schlüssen, wenn in der Brecht-Forschung ein völlig ungebrochener Gefühlsausbruch vom Hurrapatriotismus, enthusiastischer Kriegsbegeisterung und martialischer Gesinnung als üblich angenommen wird und allein schon die Tatsache, daß beim jungen Brecht Leiden, Opfer und Tod ins Blickfeld geraten, als Spannungsverhältnis zur allgemein herrschenden Gesinnung und beginnende Loslösung von ihr gedeutet wird. Schon in seiner feierlichen Erklärung vom 4. August 1914 spricht Kaiser Wilhelm II. von "Opfern"26 und die beiden berühmtesten nach Kriegsausbruch entstandenen Gedichte Soldatenabschied von Heinrich Lersch und Heilig Vaterland in Gefahren von Rudolf Alexander Schröder gipfeln in den Versen "Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!" und "Du sollst bleiben, Land! Wir vergehn"27. Derselben Opferrhetorik huldigt einige Monate später Gerhart Hauptmann in seinem Gedicht Komm, wir wollen sterben gehn 28. Daß der Einsatz für das Vaterland die Hingabe des Lebens erfordern kann, wird wahrlich nicht verdrängt, sondern allen bewußt gemacht und geradezu kultisch beschworen. "Großes muß gegeben werden, um Großes zu erlangen", heißt es bei Brecht, nämlich die Ehre und Würde des deutschen Vaterlandes zu bewahren, was "aller Opfer wert" sei29.
 
Wenn Brecht Grauen, Tod, Elend und Leid von Anfang an keineswegs verleugnet, so befindet er sich damit durchaus im Einklang mit herausgehobenen Vertretern deutschnationaler Gesinnung. Seit man auf die gedruckten Kriegspredigten des Augsburger Pfarrers und Religionslehrers Brechts Hans Detzer, auf den er noch in seiner Bearbeitung des Hofmeisters einen Hinweis einflechten wird30, aufmerksam geworden ist, wurde offenbar, wie stark Brecht mit dessen religiös verbrämter Sicht des Krieges übereinstimmt. Aus diesen Kriegspredigten ließe sich bei einseitiger Auswahl aber ein wahres Greuelszenario des Ersten Weltkriegs zusammenstellen: da ist die Rede von "furchtbaren Strapazen", dem "Schlachtfeld als grauenvollem Anblick", einem "furchtbaren Blutbad", "Strömen von Blut", "verkrüppelten und verstümmelten Massenopfern" und "Leibern von Granaten zerfetzt"31. Brecht steht ihm hier nicht nach, in seiner Vorstellung steigt ein "leichenbedecktes Schlachtfeld" auf, er nimmt die "Ruinen von jungen Menschen" wahr und er weiß, daß "Tausende sterben, qualvoll, schmerzweise sterben müssen"32. Bei aller Siegeszuversicht Brechts, die von der Kette der Anfangserfolge gestützt wird, ist von Militärromantik, haßerfüllter Aggressivität und Kriegsbegeisterung im eigentlichen engeren Sinn wie bei Pfarrer Detzer keine Spur vorhanden. Für irrationale Kriegsverherrlichung mit zivilisationskritischen Zügen - Krieg als Befreiung aus öder Langeweile und rauschhafte Sehnsucht nach dem gefährlichen Leben - hat der junge Brecht kaum etwas übrig, was für die gesamte Öffentlichkeit weithin gilt. Die Stimmung war ja eher aus einem Gemisch von patriotischer Entschlossenheit, nationaler Erregung, Kriegsfurcht, Angst und Hysterie geprägt, wie Brecht dies in seinen Berichten sehr getreu schildert33. Das Äußerste, was er sich gleichsam als Zustimmung zum Kriege erlaubt, ist, daß er ihm eine "läuternde Wirkung" zubilligt und eine Ergriffenheit vor dem großen historischen Augenblick in einer Zeit, "die sonst so größelos zerrinnt", nicht verbergen kann34. Aber auch damit ist eigentlich nicht der Krieg als militärisches Geschehen im engeren Sinn gemeint, sondern seine Wirkungen auf die Gemeinschaft des Volkes.
 
Auch in den patriotisch überschwenglichsten Passagen seiner frühen Zeitungsveröffentlichungen verfällt Brecht daher nicht dem Kriegstaumel und der Euphorie soldatischen Heldentums, bei ihm findet sich, um mit Pfarrer Detzer zu sprechen, wie bei den anderen jungen Leuten kein "Überschäumen der Begeisterung", sondern "edle Begeisterung"35. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: nicht Kriegsbegeisterung ist die richtige Bezeichnung für Brechts Haltung, sondern vaterländische Begeisterung. Der junge Brecht wird im Grunde ausschließlich von der Überzeugung beherrscht, daß es sich beim Ersten Weltkrieg von seiten Deutschlands um einen gerechten Verteidigungskrieg handelt und alle Deutschen einig und geschlossen zusammenstehen müssen und zusammenstehen, um in diesem Existenzkampf des Vaterlandes alle erforderlichen Opfer zu bringen. Daß der junge Brecht wie so gut die gesamte intellektuelle Elite des Wilhelminischen Kaiserreichs daran glaubte, kann nicht im geringsten bezweifelt werden. Von der "Notwehr" (Julius Bab) in einem aufgezwungenen Krieg sind fast alle deutschen Schriftsteller überzeugt: "Wir haben den Krieg nicht gewollt" dichtet Hanns Johst Anfang August 191436. "Jeder weiß, daß er (-der Kaiser) den Krieg nicht gewollt hat", schreibt Brecht in den "Notizen über unsere Zeit"37. "(...) unser Kaiser hat bis zuletzt alles aufgeboten, den Frieden zu erhalten", heißt es bei Pfarrer Detzer38, und Aussagen dieser Art sind Legion. Brecht folgt mit dem Hinweis auf das "Verhalten Rußlands" und seiner "Schmach" ganz der offiziellen Darstellung der Reichsführung, die dem Volk Rußland als Kriegsschuldigen hinstellte, womit ja auch erfolgreich die zustimmende Haltung der Sozialdemokratie zu diesem vermeintlichen Verteidigungskrieg bewirkt werden konnte39. Nachdem in der Augsburger Tageszeitung der Sozialdemokratie, der Schwäbischen Volkszeitung, noch in den letzten Julitagen 1914 allen kriegstreibenden Kräften scharf entgegengetreten wurde, sicherte sie nun in einer völligen Kehrtwendung die patriotische Pflichterfüllung der Arbeiter gegen die "wilden Kosakenhorden" und "Schergen" der "barbarischen Gewalt" des "Zaren" zu40. Diese Zustimmung zum "Burgfrieden", zur Konzentration der Kräfte auf den Krieg, wird Brecht später wie in dem 1945 entstandenen Lehrgedicht Das Manifest kritisieren:
 
Eint Burgfrieden die feindlichen Klassen gegen den
äußern Feind in wirklicher Not oder künstlich bereiteter Falle
Ach, den beide erfochten, den Sieg gewinnt dann nur eine41:
 
In der Gewißheit, daß es sich um einen gerechten Verteidigungskrieg handelt, den Deutschland um seine Existenz führt, steht der junge Brecht wie auch der große Augsburger protestantische Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch ganz unter dem Eindruck "der nun plötzlich sich herstellenden überwältigenden politischen und nationalen Einheit"42. "Treu steht das Volk zusammen. Jede Parteibildung ist verschwunden", meint Brecht feststellen zu können und am 3. September glaubt er zu erkennen: "Wir sehen, daß alles verwandelt ist. Daß Streit, Haß, Kleinlichkeit verschwunden sind"43. Wie fast alle Zeitgenossen ist auch er überzeugt, daß das deutsche Volk in diesem Abwehrkampf zu einer neuen Einheit und brüderlichen Gemeinschaft zusammenfindet, ist von dieser vom Krieg geschaffenen neuen Einigkeit und Geschlossenheit, dieser nationalen Hochstimmung vom August 1914 zugleich zutiefst ergriffen und versucht, mit seinen Betrachtungen, Mahnungen und Appellen noch zur Festigung dieser inneren Verbundenheit, zum Zusammenstehen in Not und Leid beizutragen. Die Opferbereitschaft für einen gerechten Verteidigungskrieg und der Glaube an ein klassenübergreifendes Ideal einer Volksgemeinschaft in diesem Kriege bilden wie bei so vielen den Kern der vaterländischen Begeisterung des jungen Brecht44.
 
Wie sehr er von diesem überwältigenden Gemeinschaftserlebnis geprägt wurde, lassen zwei Erzählungen erkennen, die 1914 und 1915 entstanden sind und in denen sich unmittelbar Erfahrungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs spiegeln: Der Freiwillige und Dankgottesdienst. Beide kreisen um "ungeratene Söhne", denen entweder der Vater die "Ehre" aus der "Hand des Todes" holen muß oder die durch ihren "Ehrentod" mit dem Vater wieder versöhnt werden45. Die patriotische Pflichterfüllung hebt die gesellschaftliche Ächtung und die Entzweiung in der Familie auf. Diese Sehnsucht nach der Herstellung einer Gemeinschaft über alles Trennende hinweg wird Brecht erhalten bleiben, an die Stelle der verklärenden Sicht der Schauer kollektiver Zusammengehörigkeit im Krieg wird aber die Hoffnung auf eine alle Gegensätze überwindende Gesellschaftsordnung treten.
 
In diesem Glauben an eine neue brüderliche Gemeinschaft des Volkes lenkt er schon am 18. September 1914 die Aufmerksamkeit auf die "ärmlich gekleideten Arbeiterinnen", die "nicht mehr zu essen haben", da sie entlassen wurden, und deren "Ernährer kämpfen, sterben für die anderen"46. Er selbst schreibt aus dieser Überzeugung heraus Gedichte für Postkarten "Zum Besten des Roten Kreuzes und der Kriegsfürsorge" und versucht, Gemeinsinn und Opferbereitschaft zu stärken:
 
Zu teilen heißt jetzt sein Hab und Gut
Mit denen, deren Nährer mit dem Schwert
In den Fäusten ließen stolz für Dich ihr Blut.
Jetzt zeige Dich, mein Volk, der Opfer wert!47
 
Das bei Brecht schon früh ins Blickfeld geratende wachsende Elend des Alltags, die Erkenntnis, daß der moralische Appell, kein "unwürdiger Egoist" zu sein, auf Dauer zur Behebung der Not nicht ausreicht, auf der einen Seite, die Kriegsgewinnler, die im Zentrum seines Stücks Trommeln in der Nacht stehen werden, die sich 1916 verstärkenden Zweifel am Verteidigungscharakter des Krieges auf der anderen führen dann weithin zu einem Verfliegen der großen einigenden Hochstimmung und Ergriffenheit von 1914, zur Desillusionierung, die tiefe Auswirkungen auf Brechts Werk haben wird.
Bis in den Sommer 1915 hinein steht Brecht unter dem Eindruck des erhebenden Erlebnisses und Gefühls vaterländischer Opferbereitschaft. Sein im Frühjahr 1915 entstandenes Gedicht Karfreitag wird sogar am 18. April 1919 auf einer Augsburger Totengedenkfeier rezitiert, der erste öffentliche Vortrag eines Brechtschen Gedichts überhaupt48. Die religiöse Verklärung und Überhöhung des vaterländischen Heldentodes auf dem Hintergrund der Emmaus-Erzählungen eignete sich dazu offensichtlich:
 
"Und sprach: Daß es Menschen gibt, die für Menschen sterben können!
Und er fühlte Staunen in sich (als er weiter spann):
Und daß es Dinge gibt, für die man sterben kann."49
 
Noch im Juli 1915 wird Brecht Gesänge von Deutschlands siegender Größe anstimmen und nimmt damit in dem Gedicht Der belgische Acker, aus dem diese Zeile stammt, nicht den geringsten Anstoß an dem völkerrechtlich verurteilenswerten Durchmarsch durch Belgien50. Die patriotische Stimmung hält so geraume Zeit an, einen Höhepunkt erreicht die vaterländische Begeisterung des jungen Brecht zu Beginn des Jahres 1915 mit einem Gedicht auf Kaiser Wilhelm II, der für die Verteidigung des Reichs der deutschen Kultur steht. Für die großen Geister der Vergangenheit, in denen sie verkörpert ist, wird stellvertretend Kant beschworen. Dabei läßt sich der junge Brecht von Will Vesper inspirieren, bei dem sich schon im September 1914 "Land" und "Kant" reimte51.
 
Das bedeutet aber nicht, daß Brecht in den Kriegsgegnern "Barbaren" sieht, wie dies Jan Knopf in völliger Verdrehung der örtlichen Gegebenheiten ganz spekulativ zu erweisen sucht52. Wenn Brecht in seinem Augsburger Kriegsbrief vom 18. September 1914 auf die "Behandlung der Franzosen auf dem Lechfeld" zu sprechen kommt, so ist der Bezug weder dunkel, noch bestätigt oder unterläuft dies einen wie auch immer gearteten Chauvinismus53. Mit der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahre 955 hat dies im Verständnis Brechts nämlich überhaupt nichts zu tun, sondern gemeint ist nur der Truppenübungsplatz und das Militärlager Lager Lechfeld, wo schon im Deutsch-Französischen Kriege von 1870/71 die französischen Kriegsgefangenen untergebracht worden waren und auch jetzt die ersten französischen Kriegsgefangenen eingetroffen waren. Brechts Bruder Walter berichtet, daß sie sich mit Fahrrädern auf den Weg machten, um diesen Kriegsgefangenen Geschenke, Obst, Kuchen und Schokolade zu bringen54. Nicht "Barbaren" sah Brecht in den Franzosen, sondern ganz im Gegenteil bemitleidenswerte Menschen. Damit befand sich der junge Brecht durchaus im Einklang mit der einfachen, vor allem der weiblichen Bevölkerung. Die Frauen steckten den französischen Gefangenen Blumen und Süßigkeiten zu, was von bürgerlichen Zeitungen als "schamloses Verhalten" heftig kritisiert wurde55. Von diesem schon von Schulkameraden beobachteten gefühlsstarken Mitleiden Brechts am Elend anderer Menschen führt eine Linie zu dem bekannten Schlußvers des Gedichts Moderne Legende: "Nur die Mütter weinten hüben - wie drüben"56. Die "Verführung zur Güte" wie im Kaukasischem Kreidekreis und das "Leiden am Mitleid" wie in Mutter Courage und ihre Kinder, die als problematische Beweggründe Brechts Werk durchziehen, werden hier schon wirksam, vaterländische Begeisterung und Mitmenschlichkeit schließen einander nicht aus, Haßgesänge sind des jungen Brechts Sache nicht. Das erwähnte Eintreten für die entlassenen Arbeiterinnen in ihrer Not, sein Einsatz für die Kriegsfürsorge deuten vielmehr auf sein weiches Empfinden, sein tiefes mitleidendes Gefühl hin, das aber zunächst durchaus im Einklang mit einer patriotischen Einstellung steht, in brüderlicher Gemeinschaft Opfer für die Verteidigung des Vaterlandes zu bringen.
 
Der enge Zusammenhang der religiösen Überhöhung des Heldentods und tiefen Mitempfindens am Leiden der Soldaten und der Bevölkerung in der Heimat führen bei Brecht nach 1915 zu einem völligen Zurückdrängen der Gefühle von Gemeinsinn, Großmut und Opferbereitschaft, denn seine spätere Entwicklung der Abkehr von der einstigen vaterländischen Begeisterung vollzieht sich nicht im Zeichen einer offen ausgedrückten Mitmenschlichkeit, obwohl dies durchaus nahegelegen hätte. Eine Richtung der allmählichen Abkehr von der Rechtfertigung des Krieges, die sich im Umdenken angesichts der Unverhältnismäßigkeit der immensen Opfer und Lasten in einem grausamen Massensterben und der immer stärkeren Zweifel am Verteidigungscharakter des Krieges von 1916 an zu artikulieren begann, bestand nämlich in der Rückbesinnung auf die Werte von Liebe, Güte und Brüderlichkeit, der bei den Frontsoldaten die Fraternisierungsbestrebungen entsprachen. Von dieser für die spätere expressionistische Kriegsdichtung so kennzeichnenden Wandlung zu einem der "Kameraden der Menschheit", so der Titel einer bekannten, von Ludwig Rubiner herausgegebenen Anthologie, findet sich bei Brecht in den Werken dieser Zeit keine Spur. Ein typischer Vertreter dieser literarischen Bewegung ist hingegen der Augsburger Expressionist Oskar Schürer, der 1911 sechs Jahre vor Brecht am Realgymnasium das Abitur ablegte, den ganzen Ersten Weltkrieg als Artillerist mitmachte und 1919 in der berühmten Reihe des Kurt Wolff Verlags "Der jüngste Tag" den Band mit dem bezeichnenden Titel Versöhnung veröffentlichte. Der Aufruf zur Verbrüderung durchzieht sein Werk: "Du Bruder Mensch! Du! was töten wir uns? (...)"57.
 
Der Prozeß der Ernüchterung, der ab 1916 weithin einsetzte, führte bei Brecht zunächst zur Darstellung der Fragwürdigkeit,Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit des Gottvertrauens angesichts sich einer menschlichem Leid als gefühllos erweisenden Naturkatastophe, von der die Gedichte Das Lied von der Eisenbahntruppe vom Fort Donald und Tod im Walde geprägt sind58, und zur Bejahung des nackten Überlebenswillens. Wenn einer der großen Sänger zu Beginn des Krieges, Heinrich Lersch, nun dichtet "Ich aber lebe und die Welt ist mein./ Es gibt auf Erden ja kein größres Glück,/ als nicht Soldat, als nicht im Krieg zu sein!"59, so stimmt eine solche Einstellung durchaus mit der des Autors des Baal überein. In der Aussage "Wenn nur der Krieg aus wär und ich daheim!" gipfelt. Caspars Lied mit der einen Strophe aus dem Jahre 191760.
 
Seinen prägnantesten Ausdruck fand die radikale Absage an den Einsatz des eigenen Lebens im Dienste des Gemeinwesens bekanntlich in Brechts Schulaufsatz über das Thema "Dulce et decorum est, pro patria mori", der ihm fast den Schulverweis eingetragen hätte. Daß die Infragestellung und Verächtlichmachung der Verklärung und Rühmung des Tods für Volk und Nation im Jahr der Schlacht um Verdun, bei der auch ein Lehrer vom Augsburger Realgymnasium den Tod fand, als ungeheure Provokation empfunden wurde, bedarf keiner weiteren Erörterung61. Da der Sinngehalt dieses Verses von Horaz mit Brechts anfänglicher vaterländischer Begeisterung mit ihrer Opferbereitschaft und -willigkeit verknüpft ist, entzündet sich an ihm nach der eingetretenen Ernüchterung die Auseinandersetzung um so heftiger, was ihn auch alle Vorsicht vergessen läßt und ihn in eine geradezu existentielle Bedrohung bringt.
 
Mit diesem Schulaufsatz wendet sich Brecht wie viele Intellektuelle ganz von den immer schwierigen Ansätzen einer republikanischen Tradition ab, die mit Klopstock und Hölderlin begonnen hatte62, denn um ein republikanisches Motto handelt es sich dabei, der Frühen Neuzeit war die Idee fremd, für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben63. Die monarchistische und konservativ obrigkeitsstaatliche Überformung der vaterländischen Begeisterung und ihr Mißbrauch in einer von Kastengeist und Klassengegensätzen geprägten Gesellschaft und im grauenvollen Massensterben des Ersten Weltkriegs wird vom jungen Brecht erkannt und in der Legende vom toten Soldaten auf großartige Weise ausgedrückt und dargestellt. Die Begriffe von Nation, Staat und Vaterland und die Identifikation mit ihnen werden für Brecht und die kritische Intelligenz aus dieser tiefen Desillusionierung heraus auf lange Zeit fragwürdig bleiben, der Mißbrauch einer edlen Begeisterung führt zur höhnischen Verachtung jedes Idealismus. In der Diskreditierung des Nationalgefühls und der patriotischen Gesinnung entsteht die Kluft zu den traditionellen Eliten und ihren Werten, die Brechts Entwicklung und das literarische und kulturelle Leben der Weimarer Republik prägen wird.